Wie bleibt man stark, wenn das eigene Kind Leukämie hatte, Susanne Mattle?

Wenn nach der Diagnose Leukämie erstmal der Boden unter den Füssen weg ist, ist es nicht so einfach, ebendiesen wieder gutzumachen. Sieben Jahre sind seit der Diagnose von Susannes Tochter Malin vergangen. Zwei davon geprägt von hochdosierter Chemotherapie. Die nächsten fünf vom Kampf gegen die Spätfolgen. «Ich war es meiner Tochter schuldig, stark zu bleiben», sagt Susanne.

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Susanne Mattle
lebt mit ihrem Mann Patrik und ihrer Tochter Malin (20) sowie deren Geschwistern (16 und 22) im Kanton Nidwalden. Sie arbeitet mittlerweile wieder zu 50% als Fachlehrperson.

Die Diagnose, die alles verändert hat, hat sich dieses Jahr das siebte Mal gejährt. Am 24. April, ein Datum, das Susanne Mattle nie vergessen wird. Ihre Kinder waren damals 9, 13 und 15.

Liebe Susanne. Sieben Jahre später… weisst Du noch, wie das war, damals, am Tag der Diagnose? Gab es irgendwelche Anzeichen?

Ein paar Tage später hätte Malin ihre erste Ruder-Regatta gehabt. Sie war also eigentlich sehr sportlich, jedoch in den letzten Wochen auffällig müde. Sie hat auch weniger gegessen und an Gewicht verloren, das fiel uns auf, aber Malin war nicht per se krank.

Und weshalb seid Ihr trotzdem bei der Ärztin gelandet?
Ich selbst hatte einen Ärztinnentermin, da ich kurz vorher eine Operation hatte. Weil ich schon mal da war, fragte ich, ob ich nicht noch mit Malin vorbeikommen dürfe. Wäre ich nicht grad vor Ort gewesen – ich wäre tatsächlich nicht zur Ärztin mit den Anzeichen, die sie damals hatte. Wir bekamen einen Termin am selben Nachmittag.

Blut wurde abgenommen und die Ärztin kam zu uns, da läge wohl ein Fehler vor beim Messgerät, wir müssten den Test wiederholen. Erneut wurde Blut abgenommen, die Milz abgetastet, welche vergrössert war. Als die Ergebnisse vorlagen, sagte die Ärztin nicht viel dazu, bat uns aber, sofort weiter zum Röntgen ins Spital zu gehen.

Ihr wart gar nicht mehr zuhause?
Nein. Die Ärztin im Kantonsspital klärte uns nach den Untersuchungen auf: «So wie es aussieht, hat Ihre Tochter Blutkrebs, akute lymphatische Leukämie.» Wir sollen gleich weiter ins Kinderspital Luzern auf den Notfall.
Mein Mann kam auch direkt nach Luzern und wir hofften auf einen möglichen Irrtum, aber der Onkologe kam noch in der Nacht ins Kispi und erklärte uns das Therapieprotokoll und dass sie gleich morgen früh mit der Chemotherapie starten würden. Morgens um zwei Uhr lag Malin verkabelt auf der Onkologiestation. Wir waren nicht einmal daheim, hatten weder Gepäck, noch konnte sich Malin verabschieden.
Rückblickend ist das schon sehr extrem. Die ganze Welt war innerhalb weniger Stunden eine andere. Das hat mir total den Boden unter den Füssen weggerissen. Mein Mann fuhr zu den Kindern nach Hause, ich blieb im Spital bei Malin und schlief auf dem Klappbett – wie so viele Nächte danach auch noch.

«Geweint hab ich dann manchmal im Auto, wenn ich heimfuhr.»

Ihr habt also im Spital gelebt?
Abwechslungsweise waren wir rund um die Uhr bei Malin. Auch nachts. Obwohl sie schon dreizehn war, war es doch wichtig für sie, dass wir für sie da waren. Leider hatte sie von Anfang an viele Komplikationen und es ging ihr oft nicht gut, umso mehr brauchte sie uns.

Wie hat Malin diese ersten Tage erlebt?
Malin hat mir mal gesagt, sie habe damals überhaupt nicht verstanden, was abgeht. Auf dem Notfall in Stans habe ich Tränen gesehen. Aber wohl mehr, weil sie so oft gepiekst wurde und wir so lange warten mussten. Richtig realisiert, dass da etwas Schlimmes ist, hat sie nicht. Auch danach hat sie nur ganz selten geweint. Malin hat die ganze Krankheit unglaublich angenommen. Bewundernswert, wie sie damit umgegangen ist.

Und du?
Ich habe mich als Mutter verpflichtet gefühlt, stark zu bleiben. Die erste Nacht, als Malin schlief, liefen mir die Tränen übers Gesicht. Die halbe Nacht. Bis keine Tränen mehr kamen. Ich blieb ganz ruhig, damit sie mich nicht hören konnte. Sie brauchte jetzt jemanden an ihrer Seite, der stark ist, damit sie kämpfen und überleben kann, damit sie diese Chemo zwei Jahre lang durchsteht. Geweint hab ich dann manchmal im Auto, wenn ich heimfuhr. Denn daheim musste ich wiederum stark sein für die gesunden Kinder. Manchmal brauchte es auch eine Zusatzfahrt, damit die Tränen trocknen konnten.

Wer hat Euch in diesen ersten Tagen beigestanden?

Die ersten Tage kann man sich fast nicht vorstellen. Unzählige Ärzt:innen kontrollierten, erklärten, verteilten Unterlagen… Man fühlt sich wie in einer Blase, irgendwo weit weg von der realen Welt.

Glücklicherweise haben wir beide unsere Eltern, die noch gut zwäg sind, in der Nähe. Das war sehr viel wert – gerade für die Geschwister, die über Mittag zum Grosi essen gehen konnten. Dieses Glück haben viele nicht.

Wir wohnen in einem kleinen Dorf, man kennt sich. Und so hatten wir immer mal wieder einen Zopf, einen Kuchen, eine Mahlzeit, Blumen, einen Brief mit tröstenden Worten oder ein Kerzli vor der Tür. Gehen mussten wir den Weg selbst, aber es hat uns zumindest getröstet und mitgetragen.

Gab es Menschen, die sich abwendeten?
Einige waren überfordert, das haben wir wohl gespürt und auch verstehen können. Sie haben zuhause ihre gesunden Kinder, während unseres im Spital um sein Leben kämpft. Viele haben sich im Nachhinein entschuldigt. Sie wären gern früher gekommen, aber sie wussten nicht, was sie sagen sollten, fanden keine Worte dazu. Und ganz ehrlich – es gibt ja auch keine.

Ich begann, auf einer Webseite zu schreiben und informieren, wie es Malin ging. Diese Offenheit hat eine gewisse Hemmschwelle abgebaut und es ist auch etwas Ruhe eingekehrt, weil wir nicht mehr so viele Whatsapps und Mails beantworten mussten. Interessierte konnten nun selbst nachlesen, wie es Malin und uns als Familie ging.

Malins Chemotherapie ging zwei Jahre. Das erste Jahr war schlimm…

Eine Chemo für diese Krebsart dauert in der Regel zwei Jahre.

Nach ein paar Wochen wurde klar: Malins Körper reagiert nicht genügend auf die Standardtherapie. Es hätten mehr Krebszellen zerstört werden müssen, dem war aber nicht so. Malin wurde in die sogenannte Hochrisiko-Chemo umgestuft. Diese Chemos sind brutale «Hämmer».

Nach dem ersten hochdosierten Block dieser Chemo war Malin sehr schlecht zwäg und lag auf der Intensivstation. Hätten die Ärzt:innen so weitergefahren, wäre sie nicht an Krebs gestorben, sondern an den Nebenwirkungen der Therapie.
Also wurde Malins Fall europaweit angeschaut und die Therapie abgeändert. Trotzdem gab es immer noch viele Komplikationen und die Intensivchemo dauerte 14 Monate statt fünf bis sieben. Mehrmals lag Malin auf der Intensivstation, sie hatte mehrere Blutvergiftungen, Bauchspeicheldrüsen-, Leber-, Darm- und Lungenentzündungen, massive Blutdruckschwankungen, Netzhautblutung (sie sah monatelang auf einem Auge nichts mehr), Diabetes und war untergewichtig, weshalb sie künstlich ernährt werden musste. Die Liste wäre noch viel länger…

Das war eine sehr intensive Zeit. Im ersten Jahr haben wir uns deshalb sehr zurückgezogen als Familie. Wir waren im Spital, am Arbeiten oder daheim – für mehr reichte die Kraft nicht. Das einzige, das wir noch machten, war, dafür zu sorgen, dass unsere gesunden Kinder möglichst normal weiterleben konnten und ihre Kolleg:innen einladen, zum Sport oder in die Pfadi gehen durften. Wir konnten nicht mehr fort und keine Ferien oder Ausflüge mehr machen. Aber die Gspändli der Kinder waren bei uns immer willkommen. Und es durfte auch gelacht werden. Trotz allem. Das war uns sehr wichtig.

Dann war alles vorbei…
Malin hat die 14 Monate Intensivchemo (intravenös) überlebt. Bei den zehn Monaten Erhaltungschemo (oral in Tablettenform) ging es ihr dann viel besser und so konnte sie nach einem Jahr auch erstmals wieder stundenweise in die Schule. Wir waren zwar immer noch oft im Spital, aber es war kein Vergleich zu vorher.

Nach zwei Jahren war die Chemo zu Ende. Geschafft! Dachten wir. Aber die Therapie hat viele körperliche «Baustellen» hinterlassen. Eine davon an den Beinen. Nach unzähligen Kontrollen bei diversen Ärzt:innen kam dann die nächste Diagnose: Osteonekrose im Kniebereich, eine Nebenwirkung der Chemotherapie. Die Knochen in den Beinen waren angegriffen, als Folge brachen Knochenteile ab und der Knorpel am Kniegelenk löste sich ebenfalls.
Malin konnte kaum mehr laufen und hatte dauernd Schmerzen. Kurze Strecken lief sie an Stöcken, für lange brauchte sie einen Rollstuhl. 2023 bekam sie nun an beiden Beinen Knie-Vollprothesen. Sie ist jetzt zwar noch nicht ganz schmerzfrei, aber sie kann wieder gehen.

Fühltest Du Dich noch immer stark genug, für das, was noch kommt?

Mein Kopf hat sich innerlich auf zwei Jahre eingestellt. Und als es dann aufgrund der Nebenwirkungen weiterging, es nicht vorbei war, spürte ich, wie unglaublich müde ich war. Mein Tank war leer und das wohl schon länger. Plötzlich überfiel mich eine Trauer und das Gefühl, in einem Hamsterrad gefangen immer weiterdrehen zu müssen, obwohl ich mit diesem Tempo eigentlich nicht mehr mithalten konnte. Ausserdem schlief ich schlecht – auch das Gedankenkarussell drehte – vor allem nachts. Und trotz allem funktioniert man irgendwie weiter. Für sein Kind.

«Wie unfair - jetzt habe ich endlich keine Haare mehr an den Beinen und kann nicht mal in die Badi.»

Ging es Malin ebenso?
Malin war und ist unglaublich stark. Das hat uns Eltern sehr geholfen. Sie musste so viel aushalten und verpasste gleichzeitig so viel in ihrem jungen Leben. Trotzdem haderte sie nie, obwohl sie weiss Gott Grund dazu gehabt hätte. Im Gegenteil, sie hat ihren (oft schwarzen) Humor nie verloren. Als ihr beispielsweise alle Haare ausfielen, sagte sie nur ironisch: «Wie unfair – jetzt habe ich endlich keine Haare mehr an den Beinen und kann nicht mal in die Badi.»

Wie geht es Malin heute?
Sieben Jahre ist es nun her. Seit April dieses Jahres gilt sie quasi offiziell als vom Krebs geheilt. Bis dahin musste sie engmaschig in die Kontrolle, auch aufgrund ihrer vielen Nebenwirkungen. Die Chemotherapie hat ihr das Leben gerettet, aber leider auch bleibende Spuren und Schäden hinterlassen. Trotzdem geht es ihr heute ganz gut. Sie ist wieder (zu Fuss) mit neuer Lebensfreude unterwegs.

Letzten Sommer hat sie die Matura abgeschlossen und kann sich eine Ausbildung im Gesundheitswesen vorstellen. Trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Geschichte.

Seit ein paar Wochen hat sie allerdings dieselben Schmerzen im Arm wie früher in den Beinen. Erste Bilder ergaben, dass sich auch am Ellenbogen ein Knochenteil abgelöst hat, welches das Gelenk immer wieder blockiert. Das muss operiert werden. Wie und wann genau wissen wir noch nicht. Die nächsten Termine stehen an. Ganz ehrlich, diese erneute Diagnose war schon ernüchternd für uns alle. Wir haben gedacht, jetzt hat sie es nach sieben Jahren endlich geschafft, die Beine sind operiert und nun kommt’s gut. Aber jetzt geht’s doch noch weiter…

Und gleichwohl sind wir so glücklich und dankbar, dass sie überlebt hat. Und sie hat es geschafft, trotz allem ihr sonniges Gemüt und ihr inneres Strahlen zu behalten. Das ist besonders stark – und nicht selbstverständlich!

«Für Eltern ist es das Schlimmste, zusehen zu müssen, wie das Kind leidet und Schmerzen hat. Das tut unglaublich weh.»

Und wie geht es Dir?

Mein Mann und ich haben schon vorher ein paar Schicksalsschläge zusammen erlebt. Das hatte uns wohl zusammengeschweisst und uns vielleicht auch geholfen, diese Jahre gemeinsam zu überstehen und nicht daran zu zerbrechen. Denn die letzten Jahre waren tatsächlich sehr intensiv und oft grenzwertig. Für Eltern ist es das Schlimmste, zusehen zu müssen, wie das Kind leidet und Schmerzen hat. Das tut unglaublich weh. Ausserdem mussten wir lernen, mit der Angst um unsere Tochter umzugehen. Das ist nicht einfach.

Heute bin ich extrem dankbar, dass unsere Malin lebt und wir das gemeinsam mit unseren Kindern und unserem Umfeld geschafft haben. Jetzt nehmen wir zusammen mit Malin noch die nächste Hürde. Die packen wir auch noch!