Christina Portenier: Das eigene Kind hat Leukämie und die Welt dreht trotzdem weiter.

 Unvorstellbar, der Moment, in dem man die Diagnose erhält. Kinderkrebs. Konkret Leukämie, also Blutkrebs. Christina hat mit uns über die tiefe, dunkle Angst gesprochen, ihr Kind zu verlieren. Darüber, wie sie trotzdem funktioniert hat. Irgendwie. Und darüber, was sie vermisste im Umgang mit Freund:innen, mit der Schule und allen anderen, deren Welt einfach weiterdrehte, während ihre eigene stillstand. 

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit unseren Partner:innen von

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Christina Portenier
lebt mit ihrem Mann Patrick, ihrer Tochter Larissa (10) und ihrem Sohn Fabian (7), einem Hund, einer Katze und 2 Aquarien in einem Berner Vorort. Sie arbeitet zu 50% als Malerin und als Tagesmama.

Tadah: Liebe Christina. Du bist Mutter. Als solche schlägt man sich mit einigen Sorgen herum – auch mit gesunden Kindern. Wie beurteilst Du diese Sorgen rückblickend?

Einfach, banal. Es gab ja eigentlich nichts Schlimmes, worüber man sich sorgen müsste. Und trotzdem sorgt man sich wegen allem. «Bin ich ein gutes Mami? Mach ich es richtig? Sollte ich mehr mit ihnen lernen?» Solche Sachen. 

Bis Larissa eines Morgens Symptome zeigte. Welche?
Es war der 30. November 2020. Larissa war müde, etwas fiebrig. Ich dachte mir nichts dabei und behielt sie einfach daheim. Am Wochenende kam meine Cousine mit ihren Kindern und Larissa war wieder aufgeweckt und spielte.  

Am Montagmorgen weckte ich sie für die Schule – sie freute sich, dass sie wieder hin konnte. Wir weckten gemeinsam ihren Bruder und Larissa ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Plötzlich hörte ich einen Knall. Als ich ins Zimmer stürmte, lag sie am Boden, war ohnmächtig geworden. Als sie wieder zu sich kam, meinte sie, es sei ihr schwindlig geworden. In diesem Moment wurde sie erneut ohnmächtig.

Was tut man da?
Ich wurde selbst ziemlich nervös, schickte Fabian möglichst ruhig in die Schule und rief dann die Kinderärztin an. Diese sagte mir, ich solle vorbeikommen. Im Nachhinein erzählte sie mir übrigens, dass sei den Eltern in solchen Situationen meist rate, ein Traubenzückerli zu geben und die Situation zu beobachten. 

Ein glücklicher Zufall, dass sie anders entschied. Die Ärztin meinte dann, etwas sei mit dem Blutgerät nicht in Ordnung, da stimme etwas nicht, wir sollen doch ins Berner Inselspital.

Sofort?
Ja. Wobei ich heute noch nicht weiss, weshalb ich zuerst das Auto heimbrachte, Essen vorkochte, Spielsachen einpackte und erst dann losging. Als hätte ich es geahnt, dass wir so schnell nicht wieder heimkommen.

«Hey, wir sind stark, wir sind doch die Porteniers.»

Was hast Du als erstes gedacht, als der Arzt oder die Ärztin die Diagnose stellte?
Im Inselspital mussten wir das ganze Prozedere über uns ergehen lassen: Blut abnehmen, röntgen, Ultraschall. Ich sass dort und fragte ganz naiv: «Was ist denn das Schlimmste, das Larissa haben könnte?». Sie sagten: «Leukämie». Ich war baff. Wir waren doch hier wegen eines viralen Infekts. Die sind doch alle hysterisch. Ich rief meinen Mann an. Er durfte wegen Corona aber nicht ins Spital kommen. Also sass ich nach sechs Stunden Tests gemeinsam mit Larissa im Zimmer, als die Ärzt:innen zu viert hereinkamen. Ich wusste: Das ist nicht gut.

Und es kam nicht gut.
«Das ist die Psychologin Soundso», wurde die eine Frau vorgestellt. Ich dachte: «oh-oh».
Ich stand wie neben mir. Ausserhalb meines Körpers. Meine Tochter streichelte mich und sagte: «Hey, wir sind stark, wir sind doch die Porteniers. Wir schaffen das.»

Konntest Du abschätzen, was das heisst, Leukämie?

Von Leukämie wusste ich nur, dass viele Erwachsene daran sterben. Dass Leukämie die häufigste Kinderkrebsart ist und auch oft gut geheilt werden kann, das wusste ich nicht.

Ging es dann gleich los mit der Behandlung?
Ich musste mich nicht erst daheim mit meinem Mann besprechen, ob wir Chemo wollen oder nicht. Natürlich wollten wir das. Wir starteten sofort.

Was passierte dann?
Sie sagten mir, dass wir nun 12-18 Tage im Spital bleiben müssen. Dass Larissas Immunsystem sofort komplett heruntergefahren wird. Danach fangen sie an «reinzubuttern». Die Chemo startet. 

In diesen ersten Wochen im Spital erklären sie dir, wie die nächsten zwei Jahre – so lange dauert der Chemo-Prozess – ablaufen werden. Du lernst, wie du mit dem Kind umgehen musst, was für Regeln es einzuhalten gilt, um es zu schützen und vieles mehr. 

Dann seid ihr nach Hause gegangen mit der Diagnose Leukämie. Und ganz viel Angst. Die Welt dreht sich einfach weiter. War das schlimm oder hilfreich?
Es war sehr schlimm. Wir hatten die Diagnose, waren 14 Tage im Spital. Aber da ist noch das zweite Kind. Was passiert mit Fabian in dieser Zeit? Auch hier hatte ich grosses Glück: Meine Eltern und mein Bruder wohnten im gleichen Dorf und nahmen Fabian zu sich. Sie haben alles organisiert und waren eine Riesenhilfe. So wusste ich: Er ist in einem guten Umfeld, auf ihn wird geschaut.

Wie hat jede:r einzelne in Eurer Familie die Diagnose Leukämie aufgenommen? 
Für uns Eltern brach die Welt zusammen. «Was haben wir falsch gemacht, dass unser siebenjähriges Meiteli Krebs bekommt?»

Larissa hat uns aufgepäppelt. Sie hat uns da durchgetragen, gab uns Kraft – sie war die Starke. Auch Fabian, mit seinen damals knapp vier Jahren hat in diesen zwei Jahren Chemo nicht einmal nicht am gleichen Strick gezogen.

Wie hat sich das gezeigt?
Eine der Regeln der Ärzt:innen war: Wenn Larissa 38 °C Fieber hatte, mussten wir im Spital anrufen, bei 38.5 °C gleich direkt ab ins Spital. Eines Abends hatte Larissa 38.2 °C Fieber. Da stand Fabian auf, packte sein Köfferli und sagte: «Du kannst Nani anrufen, ich bin parat.»

Warst Du wütend? Ja. Sehr. Gopfetori, es gibt Menschen, die nehmen Drogen, trinken zu viel Alkohol, ruinieren ihr Leben. Meine siebenjährige Tochter, die noch nie irgendetwas falsch gemacht hat, kriegt Leukämie. Das ist nicht fair. 

Wie ging es dann weiter? Wie war Euer Leben nach der Diagnose?
Wir machten sozusagen einen langen Lockdown als Familie.

Allein?
Ja. Manchmal zu allein. Wir haben viele Kolleg:innen und Freund:innen verloren. Sie wussten wohl nicht, wie sie mit Larissas Krankheit und damit mit uns umgehen sollen.
Wenn die Familie vorbeikam, trugen sie immer Masken, mussten Distanz halten. Oft hörten wir: «Wir haben Pfnüsel, wir kommen nicht, um Larissa zu schonen.» Einerseits war das durchaus nett, da Larissas Immunsystem tatsächlich ganz unten war.

Aber wir wollten auch mal wieder Kontakt mit Leuten haben. Man ist schon so tief unten, da braucht man Kontakt.

Die Welt drehte sich weiter, die Gspänli Deiner Tochter gingen zur Schule. Wie war Euer Alltag?
Wenn Larissa fit genug war, ging sie zur Schule. Auch wenn es manchmal nur ein Tag in der Woche war. Das war ihr wichtig. Gemeinsam mit der Schule und dem Inselspital haben wir geschaut, was drin liegt.

Da Corona war, hatten alle Kinder Masken an, auch die Lehrerin. Larissa war deshalb nicht «das kranke Kind mit Maske». Das war eine grosse Hilfe. Sie hat sich weniger als Aussenseiterin gefühlt.

Ihr habt viel mit Eurer Tochter gelernt, damit sie den Anschluss nicht verpasst, oder?
Im ersten Jahr nicht so viel, nein. Sie war zu müde, zu kaputt. Im Spital war einmal am Tag Schule, da kam eine Lehrerin für eine Stunde. Manchmal hat Larissa mitgemacht, meist ging es aber nicht. Weil sie so viel verpasst hat, hat sie dann die 2. Klasse wiederholt. Auch jetzt sind wir fest am Büffeln. Das birgt viel Konfliktpotential.

Fehlte es an schulischer Unterstützung?
Während der Therapie nicht. Da hat uns die Schule sehr versucht zu helfen. Sie sahen darüber hinweg, wenn Larissa mal etwas nicht konnte.

Aber jetzt ist die Normalität zurück…

Genau. Jetzt ist es manchmal so, als wäre sie nie krank gewesen. 

Jedoch kämpfen wir bis heute mit Spätfolgen der Chemo. Konzentrationsschwierigkeiten, ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis… alles Dinge, welche typisch sind für Chemo-Kinder. Plötzlich fehlt auf schulischer Seite das Verständnis. 

Da fehlt es wohl auch an Know-how, wie man auch langfristig mit so einem Krankheitsfall umgeht, oder?
Ja. Die Lehrpersonen wissen zu wenig über die Spätfolgen von Kinderkrebs. Das Arbeitstempo, die Merkfähigkeit – Larissa ist hier nicht auf demselben Level wie ihre Klassenkamerad:innen. 

Es ist halt eben nicht so, dass alles vorbei ist, nur weil die Krebszellen weg sind. Sehr häufig ist auch die chronische Müdigkeit, das sogenannte Fatigue-Syndrom.

Es braucht also Richtlinien für Lehrpersonen?
Unbedingt. Lehrpersonen sollten geschult werden, wie man diesen Kindern helfen kann. Momentan fehlt es überall an Verständnis – und damit an konkreter Unterstützung. Und das hat einen direkten Impact auf uns Eltern: Wir sind auf uns allein gestellt, müssen allein Lösungen finden. Das können nicht alle – manchmal fehlt es an finanziellen, manchmal an zeitlichen Ressourcen. 

«Kann ich daran sterben, Mami?»

Wie erging es Larissa während der Behandlung?
Sie hat die Chemo gut vertragen. Die Nebenwirkungen waren jedoch zwei Thrombosen im Kopf. Wir hatten Angst, es gäbe eine Hirnblutung. Larissa bekam Blutverdünner. Zudem war die Haut an ihren Oberschenkeln vor lauter Einstichen ganz ledrig. Aber alles in allem ging es ihr recht gut.

Wie konntest Du ihr helfen? Als Mami?
«Wir können über alles diskutieren, ausser, ob Du die Tabletten nehmen musst oder nicht. Da diskutieren wir nicht, die musst Du nehmen» – das habe ich ihr ganz am Anfang gesagt. 

Sie fragte auch mal: «Kann ich daran sterben, Mami?». Und ich sagte: «Ja.» Wir waren offen und ehrlich. Und so hat sie auch ihre Krankheit mitgetragen und ertragen. Sie war auch eine stolze Glatzenträgerin.

Klar fehlte ihr auch vieles, und sie war manchmal hässig.

Und wie ging es Dir?
Ich habe einfach funktioniert. Tag für Tag. ich habe geschaut, was sie heute für Therapien hat, welche Chemo ansteht, welche Tabletten sie nehmen muss etc. Und natürlich auch: Geht es Fabian gut?

Was hilft aus dem Umfeld?
Für uns wäre es das Schönste gewesen, man wäre gekommen, hätte uns in den Arm genommen und mit uns geredet. Zum Beispiel mal ein Telefon: «Geht es Euch gut? Ich wär grad hier, wollen wir ein Kafi nehmen?». Von uns kam das nicht, wir hatten oft nicht die Kraft, sowas zu initiieren. 

«Es ist so schön, dass wir «es» hin und wieder sogar vergessen.»

Wann ging es aufwärts?
Wir hatten jetzt gerade die Jahreskontrolle – ein Jahr keine Chemo mehr. Langsam hat uns der Alltag wieder.

Einmal im Monat müssen wir zum Kinderarzt, um Blut abzunehmen. Ich habe es total verschwitzt. Das ist so schön, dass wir «es» hin und wieder sogar vergessen. 

Wie bist Du selbst als Mutter stark geblieben?
Larissa hat mir Kraft gegeben. Und auch mein Mann war eine grosse Hilfe. Er hat alles gemacht drumherum. 

Kannst Du noch unbeschwert sein?
Manchmal geht es mega gut. Manchmal gibt es aber Tage, da sitze ich auf dem Sofa, hab eine Riesenkrise, denke über alles nach. Dann sag ich mir: «Hey, wir haben die zwei Jahre so gut durchgebracht. Wir hatten so ein Glück. Klemm dich ins Füdli und steh auf.»

Was wünschst Du allen Familien mit so einer Diagnose?
Dass sie nie den Mut verlieren mögen. Und dass sie nach Hilfe fragen sollen – überall. In der Schule, in der Nachbar- und Verwandtschaft. Nehmt Hilfe an, probiert, darüber zu reden, probiert, das Positive zu sehen, auch wenn es so schwer ist.