Mom2Mom: Mattea Gianotti.

 In unserer Artikel-Reihe „Mom2Mom“ gibt eine Mutter der nächsten das Wort. Gestartet sind wir in Zürich, dann ging die Reise ins Bündnerland, ins Fürstentum Liechtenstein, an den Walensee – mittlerweile sind wir zurück in Zürich bei Mattea. Sie hat drei Töchter, eine Scheidung hinter sich und möchte sich endlich ganz und gar von ihrem schlechten Gewissen verabschieden. 

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Mattea Gianotti
lebt mit ihren drei Töchtern Caterina (15), Margherita (13), Giorgia (11) in Zürich. 
Mattea arbeitet zu 70% als selbständige Grafikerin und Illustratorin.
matteagianotti.ch

Tadah: Wie hat sich Dein Leben verändert, als Du Mutter wurdest?

Vom ersten Moment an habe ich nicht mehr nur für mich gedacht. Es ist instinktiv passiert. Die Zeit mit dem kleinen Mädchen war schön, ich habe den Alltag genossen und das Kind bewundert. Zugleich habe ich mich jedoch in unserer traditionellen Familienaufteilung verloren und allein gefühlt.

Ich habe es von Anfang an gemerkt und versucht, es zu ändern. Ich war damals sehr introvertiert und habe sehr viel auf mich genommen.

Zwei und vier Jahre später bekam Caterina noch zwei kleinere Schwestern. Mir und meiner Arbeit konnte ich in dieser Zeit fast keinen Platz geben. Das hat an mir gezehrt. Ich fühlte mich nicht wahrgenommen, sehr wahrscheinlich auch von mir selber nicht. Als Elternteil fühlte ich mich ebenfalls einsam. Als die jüngste Tochter drei war, habe ich zu meiner Ehe «nein» gesagt.

Jetzt sind die Mädchen 11, 13 und 15 Jahre alt. Die Mutter von ihnen dreien zu sein, empfinde ich als ein unglaubliches Geschenk. Ich lerne sehr viel von ihnen. Es ist eine immense Arbeit und auch eine grosse Herausforderung, und zugleich möchte ich es nicht missen. 

Findest Du Elternratgeber wertvoll? Und wenn ja, welche?
Ich habe immer wieder Elternratgeber gelesen. In Momenten, in denen ich merkte, dass etwas in Veränderung war und ich meine Rolle als Mutter wieder suchte. Von Jesper Juul haben mich mehrere Bücher begleitet. Ich habe geschätzt, wie er die Situationen aus den Augen von allen Beteiligten wahrnimmt.

Das Buch, das mich noch heute meistens begleitet, ist von Haim Omer und Arist von Schlippe «Autorität ohne Gewalt». Aus dem Buch habe ich mitgenommen, dass Präsenz das Fundament ist. Hier für uns und für unsere Kinder da zu sein, ihnen den Weg vorzuleben, dem Alltag Sorge zu tragen.

Welchen Ratschlag würdest Du einer Mutter geben, die ihr erstes Kind erwartet?

Ich würde ihr sagen, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind grosszuziehen. Ich habe diesen Satz von der Hebamme, die uns im ersten Wochenbett begleitet hat, erzählt bekommen und sehe mich noch, als ich ihr zuhörte und nicht so recht verstand, was sie damit meinte. Ja, ein Kind braucht viel mehr als Eltern, und Eltern brauchen viel mehr Personen als nur sich. Das Dorf, das eine Familie braucht, ist aus unglaublich vielen unterschiedlichen Personen zusammengestellt. Es ist eine Konstellation, die sich ausdehnt und verändert mit den Jahren. Sie ist für mich enorm wichtig und ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne dieses Dorf gehen würde. Ich bin auch Dorf für andere geworden, zuerst musste ich lernen, dass auch ich mich unterstützen und mir helfen lassen soll.

Wann und warum wusstest Du, dass der Vater Deiner Kinder der Vater Deiner Kinder werden wird?
Wir sind zusammengekommen, als ich 18 war und er 19. Damals hatte ich eine andere Vorstellung von Familie. Wir haben nicht viel überlegt, es passte. Im Nachhinein denke ich, hatte ich eine romantische Vorstellung von der Ehe.

Heute schaue ich mit Bewunderung diese drei Mädchen an und denke, sie sind aus uns beiden entstanden, aus dieser unbeschwerten Seite von uns. Wir kennen uns seit 25 Jahren, sind seit sieben Jahren getrennt und geschieden. Es war ein sehr schmerzhafter Weg. Ich würde gleichzeitig keinen Tag austauschen, da es uns hingebracht hat, wo wir heute sind.

Wir haben eine Familie gegründet und haben zu wenig klar miteinander kommuniziert. Heute geht es mir wieder gut, und ich denke, dass ich dank dieser Erfahrung sehr viel über mich lerne. Der Weg als Eltern verändert sich ständig. Aus all den Gründen ist wahrscheinlich Stefan der Vater unserer Töchter. Ich bin erleichtert, dass wir uns getrennt haben und einen konstruktiven Weg für unsere Familie pflegen.

«Mit der Trennung habe ich gelernt an den Tagen, an denen ich allein bin, zu machen, was ich möchte und was mir gut tut, ohne schlechtes Gewissen – niemandem gegenüber.»

Hast Du je gedacht: Das schaff ich nicht? Und wenn ja, in welcher Situation? Und wie hast Du sie gemeistert?
Mit den Kindern habe ich stets das Vertrauen gehabt, dass alles gut kommt. In der Partnerschaft jedoch bin ich an meine Grenzen gekommen. Mein Ex-Mann hatte seit Jahren eine Erschöpfung. Sehr lange haben wir das nicht wahrgenommen. Ein solcher Zustand wird in einer Familie von allen getragen und das hat mich neben den drei kleinen Kindern erschöpft. Ich habe zu wenig an mich gedacht. Ich dachte, es geht mir gut, wenn es allen anderen gut geht. Zum Teil ist das auch so, aber nicht immer, vor allem nicht, wenn das Gleichgewicht ausser Balance ist.

Hast Du manchmal ein schlechtes Gewissen Deinen Kindern gegenüber?
Ja, leider habe ich das immer wieder gehabt. Besonders dann, wenn ich einfach nur für mich schauen wollte. Mit der Trennung habe ich gelernt an den Tagen, an denen ich allein bin, auch zu machen, was ich möchte und was mir gut tut, ohne schlechtes Gewissen – niemandem gegenüber.

Generell taucht dieses «schlechte Gewissen» doch überall viel zu oft auf. Mittlerweile schaue ich auf und für mich, um mich zu regenerieren und die Situation von aussen zu betrachten.

Ich brauche immer wieder diese Distanz. Es kann ein Moment sein, ein paar Stunden, ein Tag, es braucht nicht viel, dafür immer wieder. 

Darf man als Mutter lügen? Und wenn ja, wann und wieso?
Ich finde nein. Wenn die Kinder etwas nichts angeht, erzähle ich ihnen nicht alles oder ich sage, das möchte ich nicht erzählen.

Euer Lieblingskinderbuch?
Ich würde sagen „Kleiner Spaziergang“ aus Taiwan, von Chen Chih-Yuan.


Wie sieht ein idealer Tag mit Deinen Kindern aus?

Die schönsten Tage sind oft ein Zusammensein mit feinem Essen, zu viert oder auch mit Freunden. Es kann ein Picknick am See sein, ein Mittagessen auf einer Zugreise, eine feine Mahlzeit daheim oder auf Besuch, ein Abendessen im Garten. Ja, unsere Pläne sind oft mit etwas Feinem verbunden. Eine Stadtvelofahrt bis zur Gelateria, um die Ferien zu feiern, einen feinen Sugo kochen, Parmesan reiben, alles einpacken und zu geliebten Personen fahren, um zusammen zu sein, weiter zu kochen und zu essen.

 

Wie einer «dieser» Tage?
Es gibt immer wieder Tage mit schlechter Stimmung – alle sind müde und gereizt. Es sind übrigens bei uns meistens die Samstage. Jetzt, wo alle aber selbständig agieren, können wir uns aus dem Weg gehen. Irgendwann explodiert’s dann doch, was unangenehm ist, und zeitgleich kommen dann aber auch Sachen, die sich aufgestaut haben, auf den Tisch.

 

Welche Charaktereigenschaften soll Dein Kind von Dir haben?
Das Vermögen, in sich hineinzuhören und dabei über sich selbst etwas zu lernen und mit grosser Offenheit in die Welt zu laufen. Ebenso wichtig: Situationen eine zweite Gelegenheit geben zu können.

Wofür gibst Du am meisten Geld aus?
Für den Alltag, für gutes Essen und für unsere Hobbys. 


Wie ähnlich bist Du Deiner eigenen Mutter?
Das ist eine schwierige Frage. Es wird mir gesagt, ich bewege mich wie sie und meine Gesten seien ihr ähnlich. Hinzu kommt das Kochen, die Liebe zum Garten, zur Literatur, zum Nähen und Tanzen.

Leider hatte ich auch von meiner Mutter abgeschaut, allein durch anstrengende Situationen gehen zu wollen oder vermeintlich gehen zu müssen. Erst in den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass ich nicht alles machen muss, dass ich auch sagen darf: Ich mag nicht oder ich mag nicht mehr, ich brauche Hilfe. Das schätze ich sehr, dass ich nicht mehr alles muss.


Was inspiriert Dich?
Menschen, Alltagssituationen und die Natur. Ich bin sehr gerne draussen, spaziere, fahre Fahrrad oder schwimme im See. 


Was macht Dich nervös?
Wenn ich nicht weiss, was auf mich zukommt. Das Ungewisse macht mich nervös.

Wie und wo tankst Du für den nächsten Tag Energie?
Wenn ich allein bin, lasse ich mir durch den Kopf gehen, was am nächsten Tag ansteht – danach gehe ich tanzen. Ich tanze nämlich leidenschaftlich gerne Tango. Während des Tanzens vergesse ich alles, was den Alltag betrifft, und das ist unglaublich schön. 

«Ich hätte mir mehr Zeit für meine Arbeit gewünscht. Leider habe ich es damals nicht geschafft, diesen Raum für mich zu verteidigen»

Hat sich Deine Einstellung zu Deiner Karriere geändert, seit Du Mutter bist?
Ich arbeite seit 20 Jahren als selbständige Grafikerin und Illustratorin. Ich habe es genossen, wenn ein Auftrag nach dem anderen kam, hätte mir aber mehr Zeit für meine Arbeit gewünscht. Ich habe es leider damals nicht geschafft, diesen Raum für mich zu verteidigen.

Der Alltag ist meine Inspiration und dies noch mehr, seit ich Mama bin. Ich arbeite sehr gerne und bin dankbar, dass von Jahr zu Jahr wieder mehr Zeit für meine Arbeit möglich wird. Zugleich schätze ich all die Stunden so sehr, die ich mit den Kindern erleben durfte und noch darf.

Über die Bilderbücher, die ich gezeichnet habe, habe ich angefangen, Lesungen in Schulen und Bibliotheken durchzuführen. Danach habe ich eine Weiterbildung als Literaturvermittlerin absolviert und habe so die Spannbreite meiner Berufstätigkeit erweitert.

Ich kann genau das tun, was ich gerne tue: Gestalten und mit Menschen interagieren. Was ich als Mutter gelernt habe, begleitet mich in meinem Beruf: einen Schritt nach dem anderen zu gehen, in mich hineinzuhören, klar zu kommunizieren. Meine Karriere baute sich somit Hand in Hand mit dem Muttersein auf.

«Der Arbeitstag sollte kürzer sein, damit er mit dem Kinderalltag vereinbar ist.»

Findest Du, man kann in der Schweiz Familie und Beruf gut unter einen Hut bringen? 
Nein, das finde ich nicht. Der Arbeitstag sollte kürzer sein, damit er mit dem Kinderalltag vereinbar ist. Ich finde auch, dass die Zeit, die man mit Kindern verbringt, zu wenig wertgeschätzt wird. 

Was fehlt? Was müsste Deiner Meinung nach anders sein?
Ich finde, der Alltag, das Zuhause sollte im Mittelpunkt stehen. Care-Arbeit sollte viel mehr gewichtet werden. 

Wie löst Ihr die Betreuung der Kinder?
Die Mädchen sind einen Tag bei ihrem Vater und vier Tage bei mir. An den Wochenenden wechseln wir uns ab.

Welcher Mutter möchtest Du das Wort übergeben und wieso?

Gern an Anna Lechmann. Ich kenne sie seit vielen Jahren, sie ist mittlerweile Mama von zwei kleinen Töchtern. Zusammen kochen, essen, spielen und reden wir –  es ist jedes Mal wohltuend und schön.